Sehnsucht nach Meer

Der letzte Eintrag hier in diesem Blog ist schon eine Weile her. Die Idee für die folgende Geschichte geistert jedoch schon ein paar Tage in meinem Kopf. Ich hoffe, sie gefällt euch. 

 

Das Geheimnis des Meeres

Diese Stille. Obwohl… eigentlich war es gar nicht still. Die Brandung des Meeres donnerte an den Strand, die Wellen brachen sich an den Steinen, die spitz und dunkel weiter draußen aus dem Wasser ragten. Die Gicht war bis zu ihrem Sitzplatz auf der höchsten Stelle der Düne zu spüren. Aber außer diesem Geräusch war nichts zu hören. Kein Möwengeschrei. Keine Kinder, die im warmen Sand spielten. Keine Erwachsenen, die sich unterhielten. Das wäre auch ungewöhnlich gewesen. Immerhin war es fast Mitternacht und alle Urlauber, die sonst hier für Unruhe sorgten, waren längst im Bett.

Nur Eileen nicht. Sie konnte nicht schlafen. Ihr Mann und die Kinder waren im Ferienhaus, aber der Mond, der durch das Fenster geleuchtet hatte, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Obwohl außer ihr niemand da war, fühlte sie sich nicht einsam oder allein. Nein, sie spürte die Natur, die um sie herum pulsierte.

Hinter ihr im Sand waren kleine Krabben, die nun in der Dunkelheit Richtung Wasser drängten. Das Gras, das ihre nackten Füße kitzelte, schien ein leises Lied zu summen.

Unvermittelt verstummten das Meer und die Oberfläche des Meeres wurde spiegelglatt. Über allem leuchtete der Mond.

Eileen hielt den Atem an, während sie weiter den Strand und das Wasser betrachtete. Irgendetwas stimmte hier nicht, das konnte sie fühlen. Irgendetwas würde gleich passieren.

In der Ferne sah sie ein Licht, das über dem Wasser zu schweben schien. Das konnte nicht sein, das war unmöglich. Dieses Licht kam nun auf sie zu. Nicht schnell, aber doch beständig.

Sie blinzelte und kniff die Augen fest zusammen, um ihren Blick besser fokussieren zu können. Nein, es schwebte nicht ÜBER dem Wasser, es war IM Wasser. Was war das?

Die Düne fiel hinter ihr sanft ab. Flach legte sie sich hinter die höchste Stelle, um über den Rand schauen zu können. Das goldschimmernde Licht zog sie in ihren Bann. Es kam näher und näher.

Kurz vor dem Strand angekommen, kräuselte sich die Oberfläche. Es brodelte, als würde das Wasser kochen. Fast hätte sie aufgeschrien, als etwas dem Wasser entstieg. War das ein Mann? Von seiner Haut perlten Wassertropfen, die im Licht des Mondes glitzerten. Er war breit gebaut. Deutlich konnte sie die ausgeprägten Muskeln erkennen. Wie es aussah, trug er keine Kleidung. Ein nackter Mann, der aus dem Wasser kam? Sie musste träumen! Vielleicht war es ein Meermann, der sie holen wollte. Nur schwer konnte sie das Kichern, das sich in ihrem Brustkorb bildete, unterdrücken. Unter keinen Umständen wollte sie entdeckt werden, aber es war einfach zu komisch.

Mittlerweile hatte er den Strand erreicht. Wer oder was immer er war, er schüttelte sich wie ein nasser Hund, so dass die langen Haare nur so flogen.

Fasziniert beobachtete sie ihn. Was er wohl hier wollte? Wartete er auf jemanden? Vielleicht auf seine Meerjungfrau? Nein, das war Quatsch. Das waren nur Märchen, die sich jemand ausgedacht hatte. Genau, das war es. Nur eine Geschichte. Oder ein Traum.

Ihr Blick ging hinauf zum Himmel. Von ihm sagte man, dort wohne der Mann im Mond. Noch so eine Geschichte, die man Kindern erzählte.

Ein Geräusch vom Strand ließ sie zusammenzucken. Er hatte sich in den Sand gesetzt und betrachtete nun wie sie das Wasser. Die Bewegungen des Meeres nahmen langsam wieder zu.

„Ich weiß, dass du dort oben bist, Eileen“, drang nun eine tiefe, warme Stimme zu ihr. Er kannte ihren Namen? „Du kannst ruhig herkommen, ich tue dir nichts. Versprochen.“

Er drehte sich nicht zu ihr um, aber doch schien er auf sie zu warten. War sie so verrückt, hinunter zu gehen? Sie war es.

Entschlossen stand sie auf. Ja, sie wollte wissen, wer das war. Woher er ihren Namen kannte. Ihr Schuhe, die sie am Ende des Steges ausgezogen und in die Hand genommen hatte, blieben auf der Kuppe der Düne liegen. Mehr rutschend als gehend näherte sie sich dem Strand. Noch immer war der Sand warm.

Bei dem Unbekannten angekommen, blieb sie neben ihm stehen und schaute auf ihn hinab.

„Wer… wer bist du? Sag jetzt nicht, du bist aus dem Wasser gekommen. Ich muss halluzinieren oder so etwas. Das alles hier kann nicht wahr sein“, wisperte sie.

Er wandte sich ihr zu. Zweifellos war er attraktiv. Ein wenig exotisch vielleicht. Seine Augen standen leicht schräg, fast wie bei einer Katze. Die Farbe seiner Pupillen konnte sie nicht erkennen, es war zu dunkel. Die Haut war nicht hell wie ihre, aber einige seltsame Zeichen und Muster bedeckten seine Arme.

Mit seiner großen Hand klopfte er auf den Boden neben sich. „Setz dich“, befahl er und sie gehorchte.

„Weißt du eigentlich, wie lange ich auf dich gewartet habe, Eileen?“, fragte er sie. „Bei jedem Vollmond kam ich hier her, in der Hoffnung, dich anzutreffen. Doch nie warst du da. Wo warst du nur?“

„Du hast auf mich gewartet? Hier? Wie konntest du wissen, dass ich irgendwann an diesen Strand kommen würde?“, wollte sie wissen.

„Du hast keine Ahnung, wer du bist, kann es sein? Oder wer ich bin? Und dass wir uns schon lange kennen.“ Langsam schüttelte er den Kopf. „Wie konntest du das alles vergessen?“

Wie in Trance betrachtete sie ihn. Sie kannten sich? Nein, daran würde sie sich bestimmt erinnern. Wie könnte sie einen Mann wie ihn vergessen? Einen Mann mit seinem Aussehen. Er hatte hohe Wangenknochen und eine schmale Nase. Seine Lippen waren voll und geschwungen. Gegen ihn kam sie sich hässlich vor. Niemals würde ein Mann wie er auf jemanden wie sie warten. Nie!

„Hast du keine Erinnerung mehr an mich, an meine Welt, an unser gemeinsames Zuhause?“ Nachdenklich sah er sie an.

„Nein, sorry. Wo soll das gewesen sein? Ich komme aus Hamburg, wenn du weißt, wo das ist“, sagte sie mit zittriger Stimme.

Langsam hob er seine Hand, legte sie an ihre Wange. „Schließ deine Augen, dann zeige ich es dir. Vertrau mir bitte“, murmelte er.

Wohltuende Wärme durchströmte ihren Körper. Sie fühlte sich leicht und doch geborgen. Er würde ihr nichts tun, das wusste sie. Wie durch einen Nebel hörte sie seine Stimme.

„Fürchte dich nicht, dir kann nichts geschehen. Lass dich fallen.“

In ihrem Kopf tauchten Bilder auf. Sie war unter Wasser, doch sie konnte atmen. Gemeinsam mit dem Mann, der nun ihre Hand in seiner hielt, betrat sie eine große Halle. Überall glitzerte und funkelte es. Ein paar Personen schaute auf, als sie an ihnen vorbei gingen. Sie neigten die Köpfe und lächelten ihr zu. Was sie sagte, konnte sie nicht verstehen, aber sie spürte, dass es nichts Negatives war.

„Wer sind diese Menschen? Wo sind wir hier?“, verlangte sie zu wissen. „Warum starren die mich alle so seltsam an?“

Die Vibrationen seines Lachens übertrugen sich auf sie. „Sie freuen sich nur, dass du wieder zu Hause bist. Unserem Zuhause. Du bist ihre Königin, hast du das auch vergessen?“

„Ich und eine Königin? Du erlaubst dir einen üblen Scherz mit mir.“ Entrüstet drehte sie sich ihm zu. Dabei fiel ihr Blick auf den riesigen Spiegel, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte. Wer war diese Frau? Das konnte unmöglich sie sein. Die Person dort hatte langes, dunkles Haar, das in weichen Wellen über ihre Schultern fiel. Ihre Figur war schlank, fast schon zierlich mit einer schmalen Taille, aber einem vollen Busen. Wie der Mann neben ihr hatte sie schräg stehende Augen. Nein, das konnte unmöglich sie sein. So hatte sie nicht mehr ausgesehen, seit… sie musste überlegen.

Warum konnte sie sich nicht erinnern, wie sie als Teenager ausgesehen hatte? Warum hatte sie keine Erinnerungen an ihre Kindheit? Und warum war ihr das noch nie aufgefallen? Die früheste Erinnerung, die sie abrufen konnte, war die, als sie am Strand Sven kennengelernt hatte. Wo war er hergekommen? Wer war er? Und wer war der Mann, der sie mitgenommen hatte und der nun neben ihr stand, wirklich?

„Wer bist du? Du sagtest, wir kennen uns, aber ich weiß beim besten Willen nicht, woher.“

Der geheimnisvolle Mann führte sie an eines der bodentiefen Fenster. Es herrschte keine Dunkelheit, was man im tiefen Wasser erwartet hätte. Ganz im Gegenteil, warmes Licht durchdrang alles. Draußen flitzten unzählige Fische vorbei. Eine Gruppe Delfine schwamm in weiten Kreisen um eine Statue, die wie sie selbst aussah. In der Ferne sah sie etwas, dass an Häuser erinnerte. Nein, das konnte nicht sein. Häuser unter Wasser?

„Sieht das nach einem Scherz aus? Vielleicht brauchst du etwas Hilfe beim Erinnern. Fangen wir damit an, dass ich dir meinen Namen nenne. Ich heiße Kejell und bin seit vielen Jahren dein Mann. Wir kennen uns schon unser ganzes Leben. Vor sieben Jahren bist du plötzlich verschwunden und seitdem durchstreife ich die Meere auf der Suche nach dir. Bei Vollmond habe ich stets an diesem Strand auf dich gewartet, denn das war dein Lieblingsplatz und hier wurdest du zuletzt gesehen. Nur bei Vollmond konntest du als Mensch an Land gehen. Doch eines Nachts kamst du nicht wieder. Wir fanden deine blutverschmierte Kleidung. Was ist passiert, Geliebte? Wer hat dir etwas angetan?“

Die Arme, die sie nun umschlossen, waren stark. Der Duft, der von seinem warmen Körper ausging, erweckte Gefühle in ihr, die sie vergessen glaubte. Auch sie umarmte den Mann, ihren Mann. Sie liebte ihn, das wusste sie nun. Sie hatte ihn immer geliebt. Doch wie sollte es nun weiter gehen? Sie konnte nicht einfach ihre Kinder zurücklassen. Was würde aus ihnen werden, wenn sie nie wieder käme? Was würde aus Sven, ihrem anderen Mann, werden?

Leise seufzte sie auf. „Kejell, ich weiß nicht, was mit mir geschehen ist, aber ich kann nicht einfach bei dir bleiben. Ich habe nun Kinder, die mich brauchen und einen Mann, der mich liebt.“

Der Blick, mit dem Kejell sie ansah, berührte ihre Seele. So viele Jahre hatte er sie gesucht und nun, da er sie endlich gefunden hatte, sollte er sie wieder gehen lassen?

„Ich liebe dich, Temira. Das ist dein richtiger Name. Wie soll ich ohne dich leben? Bedeutet dir meine Liebe denn gar nichts? Ich kann dich nicht einfach gehen lassen, verstehst du das?“

Bevor sie reagieren konnte, küsste er sie. Seine Lippen waren weich, sie liebkosten die ihren, während seine Hände ihre Wangen umschlossen.

Als würde eine Last von ihr abfallen, erwiderte sie seinen Kuss. Eine Sehnsucht und Leidenschaft, die sie nie für möglich gehalten hatte, erfasste sie, nahm ihr fast den Atem.

Bilder ihrer Kinder blitzen auf, sie riefen sie, schienen sie daran erinnern zu wollen, wo sie hingehörte.

Mit beiden Händen drückte sie gegen seine Schultern. „Kejell, ich kann nicht. Meine Kinder…“, murmelte sie an seinen Lippen.

„Es sind nicht deine Kinder. Als du noch bei mir warst, haben wir lange versucht, ein Kind zu bekommen, aber es ging nicht. Warum wissen die weisen Männer unseres Volkes nicht. Der Mann, den du Sven nennst, hat diese Kinder mit einer anderen Frau gezeugt und sie dir untergeschoben. Auch wenn du Gefühle für sie hast, sind es trotzdem nicht deine. Du hast sie nicht geboren“, sagte er, sie noch immer umarmend.

„Aber wie kann das sein? Ich weiß, dass es meine sind“, entgegnete sie. „Ich war mit ihnen schwanger und habe sie zur Welt gebracht.“

„Nein, meine Königin, das stimmt nicht.“

Erschrocken drehte sie sich um. Eine kleine, alte Frau sah zu ihr auf. „Ich habe euch glauben lassen, dass es so war. Nie hätte ich erwartet, dass mein Sohn, euer Mann, unser König, euch finden würde. Er hat nie aufgehört, nach euch zu suchen, meine Königin. Verzeiht mir, dass ich euch das angetan habe.“

„Warum hast du das getan? Was habe ich dir getan?“, fragte Eileen.

„Du warst so unglücklich, hast dir so sehr Kinder gewünscht. Wie oft sah ich dich auf dem Felsen sitzen, während du die Kinder an Strand beobachtet hast. Ich dachte damals, ich würde das richtige tun, aber ich habe mich getäuscht.“ Tief neigte sie ihr Haupt.

Wenn das alles stimmt, dann gab es keinen Grund für sie, zurück zu Sven, Lisa und Max zu gehen. Sie würden sie vergessen, irgendwann. Die Kinder waren noch so klein, sie würden über ihren Fortgang hinwegkommen.

„Kannst du eine letzte Sache für mich tun? Lass meine Familie mich vergessen. Sie sollen glücklich werden, ohne mich. Ich weiß nun, wo ich hingehöre. Das habe ich immer gewusst. Ich weiß jetzt, warum es mich stets zum Meer gezogen hat. Es wollte mich nach Hause holen, aber ich konnte es nicht verstehen.“ Eileen wandte sich zu ihrem Mann. „Ich gehöre zu dir. Hier ist mein Zuhause.“

Ohne sich von ihrer Familie zu verabschieden, blieb sie im Meer. Am Strand fand man ihre Kleidung, doch niemand konnte sich erklären, wem sie gehörte. Niemand wurde vermisst. Ihr Mann reiste mit den Kindern ab und kam nie wieder zurück. Ihre Familie hatte sie vergessen, dafür hatte die Königsmutter gesorgt.

 

In dem kleinen Ort an der Küste erzählte man sich viele Jahre lang die Geschichte von der Frau mit der hellen Haut, die im Licht des Mondes am Strand saß. An ihrer Seite ein Mann mit dunklen Haaren. Doch niemand konnte sich erklären, wer oder was das war. Man fand keine Fußabdrücke. Sie kamen und verschwanden, ohne ein Zeichen zu hinterlassen. 

 

Alles Liebe für euch. Sandrine 

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Kommentare: 2
  • #1

    Patti (Sonntag, 22 September 2019 17:58)

    Du hast mich gerade zum Träumen gebracht, indem Du mich aus dem grauen Alltag ans Meer entführt hast;)) Ich liebe Deinen Schreibstil und freue mich auf weitere Geschichten von Dir!

  • #2

    Jutta Günnewicht (Montag, 23 September 2019 19:41)

    Liebe Sandrine, ich finde dieses Stück einfach zum träumen, wie Du ja weist liebe ich das Meer über alles es ist so schön beruhigend,eine richtig schöne Geschichte die zum träumen einlädt �